06.02.2019

Interview: Arbeiten in Zeiten der Digitalisierung

INW | Nachrichten

Die Digitalisierung beflügelt Fantasien und Innovationen, sie bringt uns neue Produkte und Geschäftsmodelle. Es wird noch lange dauern, bis wir ermessen können, wie nachhaltig unser Leben schon jetzt verändert wurde und was wir noch zu erwarten haben. Es gibt Unternehmen, die ihre Geschäftsabläufe durch die neue Technik verändern, andere Unternehmen entstehen erst durch die digitale Revolution. Durch und durch digital ist die XING AG mit Sitz in Hamburg. Das Unternehmen betreibt seit 2003 ein soziales Netzwerk, das im Kern auf den Businessbereich abzielt. XING ist ein Produkt der Digitalisierung und Treiber der digitalen Revolution.

 

INW: Was bedeuten die Digitalisierungund Arbeit 4.0 für XING?

Thomas Vollmoeller: „Die Arbeitswelt erlebt derzeit einen Paradigmenwechsel, wie es ihn seit der Industriellen Revolution nicht gegeben hat. Zentraler Treiber dieses Wandels ist die Digitalisierung. Sie verändert unsere Arbeitsrealität auf grundlegende Art und Weise. Ein naheliegendes Beispiel dafür ist unser Kerngeschäft, das Netzwerken. Früher hatte ein Netzwerk, wer das Glück hatte, in die richtige Familie hineingeboren worden zu sein und die passende Universität besucht hatte. Heute kann jeder ein Netzwerk haben. Denn XING hat das Vitamin B demokratisiert. Als führendes Businessnetzwerk im deutschsprachigen Raum engagieren wir uns intensiv dafür, die Chancen der Veränderungsdynamik zu ergreifen und Denkanstöße zum Thema „New Work“ zu geben – damit die Arbeitswelt für alle ein bisschen besser wird. Digitalisierung allein auf eine neuartige Technik zu reduzieren, wäre ein grundlegender Fehler. Es ist weit mehr, es ist eine Umwälzung vom dem, was wir bisher in der Arbeitswelt erlebt haben. Nicht nur die Mittel, mit denen wir Arbeit betreiben, sind neu, die Organisation von Arbeit verändert sich, der Arbeitsplatz wandelt sich, nicht nur örtlich sondern auch inhaltlich. Digitale Arbeit ermöglicht vermehrt neue Arbeitsmodelle, wie die Telearbeit, und neue Arbeitsformen, wie das Crowdworking. Dabei werden Aufträge, meist zerteilt in kleinere Aufgaben, über digitale Plattformen an Crowdworker vergeben. Dies kann sowohl an die eigenen Beschäftigten erfolgen (internes Crowdworking) als auch an Dritte (externes Crowdworking). Das sind oftmals Selbständige, die für viele Auftraggeber weltweit arbeiten. Nach der Revolution durch die Digitalisierung setzt jetzt eine Evolution in den Arbeitsverhältnissen ein.“

 

INW: Welche Rolle spielen Digitalisierung und Arbeit 4.0 für XING als Arbeitgeber?

Vollmoeller: „Eine große. Nach unserer Erfahrung ist es wichtig, dass Arbeit in einer guten Atmosphäre stattfindet, dass Mitarbeiter Freiräume haben, dass in Teams unterschiedliche Perspektiven vertreten sind. Warum? Weil wir glauben, dass soziale Innovationen Voraussetzung für technische sind. So führen wir jede Woche eine Zufriedenheitsumfrage unter den Mitarbeitern durch. Experimentieren mit Veranstaltungen, in denen wir den größten Fehler feiern, um daraus zu lernen und Fehlern die Dramatik zu nehmen – denn schließlich wird man nicht dauerhaft innovativ sein können, wenn man Angst vor ihnen hat. Weiterhin veranstalten wir regelmäßig sogenannte ‚Hack-Weeks‘, in denen Mitarbeiter freie Zeit bekommen, um an eigenen Ideen zu arbeiten.“

 

INW: Digitalisierung, die damit verbundene ständige Erreichbarkeit und die Möglichkeit, überall auf der Welt immer arbeiten zu können – das sind Kritikpunkte an der modernen Arbeit. Können Sie der modernen Arbeit auch positive Aspekte abgewinnen?

Vollmoeller: „Ich kann der modernen Arbeit überaus viele positive Aspekte abgewinnen und ich glaube, wenn Sie XING-Mitarbeiter fragen, werden diese es ebenfalls so sehen, genauso wie sehr viele XING-Mitglieder. Denn was wünschen sich Arbeitnehmer von heute? Arbeitsbedingungen ohne starre Hierarchien, mit weitgehender Autonomie, hoher Flexibilität, was Arbeitszeit und -orte betrifft, um nur ein paar Aspekte zu nennen. Das alles ist durch die Digitalisierung möglich. Sie ermöglicht, dass ein Arbeitnehmer seinen Nachwuchs selbst vom Kindergarten abholt, mit ihm nach Hause fährt, Zeit mit ihm verbringt und am Abend noch etwas Arbeit nachholt. Ich finde es deshalb bedauerlich und nicht mehr zeitgemäß, wenn ein Arbeitnehmer wegen eines kurzen Arztbesuchs oder die Arbeiten eines Klempners am Haus einen Urlaubstag einreichen muss. Erreichbarkeit statt Anwesenheit ist die Devise. Kreative Köpfe brauchen Freiräume, müssen Ideen äußern, sie selbständig weiterentwickeln können.“

 

 

Neue Anforderungen für Führungskräfte

Neues Arbeiten bedeutet auch neue Führung. Die Anforderungen an moderne Führungskräfte haben sich bereits gewandelt und werden sich weiterhin verändern. Dabei gibt es zwei unterschiedliche Führungsansätze in einem Umfeld rascher Transformation und veränderter Anforderungen: Ein Führungstypus setzt darauf, sein Unternehmen jederzeit unter Kontrolle zu haben. Er will wissen, wo seine Mitarbeiter sind und was sie gerade machen. Mittlerweile aber hat sich eine weitere Art von Führungspersönlichkeit gebildet: Kontrolle ist nicht der Kern ihres Stils. Sie akzeptiert, dass dezentrale Einheiten unter einem gemeinsamen Dach funktionieren können. Sie gibt ihren Mitarbeitern mehr Freiraum, überprüft nicht einzelne Arbeitsschritte, sondern meist nur das Ergebnis. Sie schafft es qua Amt, ihren Mitarbeitern Freiheiten zu schenken und vertraut ihnen. Trotz des legereren Ansatzes kann auch dieser Stil zum Erfolg führen.

 

INW: Was glauben Sie, wie die Digitalisierung Ihre Aufgabe als Führungskraft über die letzten Jahre verändert hat, und wie sie sie in den nächsten Jahren noch verändern wird?

Vollmoeller: „Ebenso wie sich die Arbeitswelt ändert und die Digitalisierung fortschreitet, so wird sich auch in der Führungskultur noch viel tun. Studien zeigen: 85 Prozent der Berufstätigen sehen großen Veränderungsbedarf der Führungskultur in Deutschland. Kein Wunder, denn die komplexen Herausforderungen der Gegenwart, die gepaart sind mit immer höherer Veränderungsgeschwindigkeit, lassen sich immer schlechter von oben herab managen. Deshalb werden hierarchische Macht und personale Führung immer weniger wichtig. Anstelle dessen treten vielfach Netzwerkstrukturen, in denen dezentrale Teams in hoher Eigenverantwortung agieren. Darauf setzen wir auch bei XING.“

 

INW: Führung ist nicht immer einfach. Haben Sie sich einmal verrannt? Und was haben Sie daraus gelernt?

Vollmoeller: „Natürlich habe auch ich als Führungskraft an manchen meiner eigenen Entscheidungen genagt. Aber eine unserer Leitlinien bei XING heißt ‚Make Mistakes‘. Fehler gehören dazu, wenn man weiterkommen will. Deshalb bin ich davon überzeugt: Wir brauchen in Deutschland eine neue Fehler- und Feedbackkultur.“

 

 

Deutlicher Nachholbedarf in Deutschland

Obwohl Deutschland ein wirtschaftlich führendes Land ist, gibt es off enbar noch ein großes Nachholbedürfnis in Sachen Digitalisierung. So warnte der Generalsekretär der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Ángel Gurría, dass Deutschland mehr investieren müsse, um mit den Herausforderungen der Digitalisierung fertigzuwerden. Diese Einschätzung wird von einer Umfrage des AGA Unternehmensverbandes unter seinen 3.500 Mitgliedern gestützt. Diese ergab, dass der Handel der Digitalisierung gegenüber in weiten Teilen positiv eingestellt ist und schon zahlreiche Maßnahmen ergriffen hat, um die Chance zu nutzen. „In besonderem Maße sehen wir bei kleineren und mittleren Unternehmen den Bedarf, die eigenen Mitarbeiter zu schulen und damit die eigenen Kompetenzen zu stärken“, sagte AGA-Hauptgeschäftsführer Volker Tschirch.

 

INW: Wie gut sind deutsche Unternehmen für die Zukunft aufgestellt?

Vollmoeller: „Ich glaube, da ist noch Luft nach oben. Denn wenn der Innovationsdruck steigt und es stimmt, dass Innovationen in aller Regel in den Köpfen der Mitarbeiter schlummern, macht die traditionelle, quasimilitärische Führungskultur immer weniger Sinn. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass gerade die Talente einen Bogen um solche Unternehmen machen, da sie sich in Zeiten des Fachkräftemangels vielfach ihre Arbeitgeber aussuchen können. Deshalb glaube ich, dass noch mehr Unternehmen bereit sein müssen, sich zu wandeln und von althergebrachten Strukturen abzurücken, um zukunftsfähig aufgestellt zu sein.“